Ist die Dichtung am Ende?

Ist die Dichtung am Ende?

Ist die Dichtung am Ende?

Welche Innovationen aus der Dichtungstechnik noch zu erwarten sind

Dass eine falsch ausgelegte Dichtung schlimme Folgen haben kann, wissen wir spätestens seit der Katastrophe des Space-Shuttle Challenger. Auch in der Industrie steigen die Anforderungen, und die Frage steht im Raum, ob die Dichtungstechnik bei dem aktuellen Innovationstempo mithalten kann, fluid fragt, Experten antworten.

Sind Dichtungen das bremsende Element, ja sind sie sogar die Achillesferse der Hydraulik? In welchen Bereichen sind Innovationen zu erwarten? Zu diesem Thema diskutierten in der fluld-Redaktion Experten von Freudenberg Sealing Technologies, Parker Hannifin, SKF Economos sowie der Universität Stuttgart. Die Dichtungen in der Hydraulik haben sich in der Vergangenheit kontinuierlich weiterentwickelt. Wo früher ein G-Ring verbaut war, kamen mit höherem Druck und Pulsation der Stützring, der Polyurethan-0-Ring und dann der Polyurethan-Rechteck-Ring. Doch was erwartet der Markt heute?

Anforderungen an Dichtungen steigen
Ist die Dichtung am Ende?
Ist die Dichtung am Ende?
Gonzalo Barillas, bei Freudenberg zuständig für die Vorausentwicklung von Dichtungen für die Fluidtechnik bei mobilen Maschinen, sieht die Zuverlässigkeit als wichtigste Anforderung an jede Dichtung. Doch auch die Globalisierung wirke sich auf das Maschinenelement aus: „Da Land- und Baumaschinen heute vielfach geleast werden, weiß man als Hersteller oft nicht, wo die Maschinen landen. Die können genauso gut in Südostasien wie in Nordkanada in Betrieb sein. Die Dichtung muss sowohl Hitze als auch Kälte aushalten. Die Pflege des Hydrauliksystems ist zudem vielerorts schlechter. Man weiß nicht, mit welchem Öl das Hydrauliksystem nachgefüllt wird, oder ob Wartungsintervalle eingehalten werden.“

Sein Kollege Dr. Kristian Müller-Niehuus, bei Freudenberg als Director Engineering Heavy Industry für die stationären Maschinen zuständig, ergänzt: „Ein Trend ist, dass die Erwartung an die Lebensdauer einer Dichtung steigt, und das bei aggressiveren biologisch abbaubaren Medien.“ Steigende Drücke sieht er weniger als Problem, man sei in der Hydraulik seit Jahren an der 400-bar-Druckmauer: „Wir sind vielleicht mal bei 440 bar, aber nicht bei 800 oder 1000. Das haben wir im Griff. Aber wir müssen von -40°C bis 160 °C mit nur einem Werkstoff agieren.“

Thomas Papatheodorou, Leiter Versuch und Fast Sampling Cell bei Parker Hannifin in der Prädifa Technology Division bringt einen anderen Punkt in die Diskussion: „Nach wie vor wollen die Kunden Kosten reduzieren. Idealerweise sollte die gleiche Dichtung bei gleichem Leistungsvermögen nur noch die Hälfte kosten als vielleicht noch vor zehn Jahren.“ Auch er sieht das Problem, dass Maschinen in Mitteleuropa ausgelegt, dann aber in Kolumbien oder Malaysia eingesetzt würden, wo unter anderem hohe Luftfeuchtigkeiten den Dichtungen zusetzten. Hinzu kommt: „Viele Öle, die in Europa funktionieren, müssen noch lange nicht in Amerika oder Asien funktionieren. Selbst Öle mit der gleichen Bezeichnung haben manchmal andere Zusammensetzungen. Dessen sollte sich der Kunde einfach bewusst sein.“

Thomas Deigner, Geschäftsführer bei SKF Economos, bestätigt, dass zuverlässige Dichtfunktion und Preis wesentliche Punkte seien. Er ergänzt allerdings: „Es geht auch darum, Prozesskosten zu senken, etwa durch automatische Montage oder durch konstruktive Maßnahmen, etwa wenn anstatt drei Dichtungen nur eine verwendet wird. Es geht auch um Einbauraum und Montagemöglichkeit.“

Video Expertenrunde fluid: Ist die Dichtung am Ende?
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„Die Gleitringdichtung funktioniert eigentlich sehr gut, wenn sie eingelaufen ist und konstante Betriebsbedingungen hat, so wie es über viele Jahre in jeder Pumpe war“, führt Prof. Werner Haas aus. Prof. Haas ist Leiter des Bereichs Dichtungstechnik am Institut für Maschinenelemente der Universität Stuttgart. „Heute werden die Pumpen aber über drehzahlgeregelte Antriebe je nach Leistungsanforderung hoch und runter gefahren, und das macht doch sehr große Schwierigkeiten. Ein anderer Bereich ist Robotik, dort haben wir schnelle, kurze, ruckartige Bewegungen, und das mögen die Dichtstellen überhaupt nicht.“ Die Anwender stellten zwar immer höhere Forderungen, was Drücke, Drehzahlen oder Temperaturen anbelange, auch im Tieftemperaturbereich, aber das Wissen über die Funktion einer Dichtstelle sei relativ gering. „Dort liegen viele Fehler begründet, die heute in der Praxis auftreten“, so der Professor.

Die Zukunft der Dichtungen
Doch ist ein bewährtes Element wie die Dichtung nicht in seiner Entwicklung am Ende? Wo gibt es noch Innovation? Gonzalo Barillas ist optimistisch: „In Zukunft wird das Thema Werkstoffe die maßgebliche Rolle spielen. Die Geometrien haben sicherlich auch einen Effekt, aber Innovation wird hauptsächlich vom Werkstoff ausgehen, der auch stark die Konstruktion der Dichtstelle beeinflusst – je nach dem Material der Gegenlauffläche.“ Weitere Anforderungen an die Dichtungstechnik kommen laut Barillas aus dem regulatorischen Umfeld. „Die Einschränkungen bezüglich Chrom VI in der Hartverchromung, obwohl wir direkt damit nichts zu tun haben, gehen uns natürlich auch viel an“, führt er aus, Denn es sei die Frage, welche Alternativen die Kunden für den verchromten Zylinder wählen. Keramische Schichten etwa seien sehr abrasiv, allerdings gebe es auch dafür Lösungen. Thomas Papatheodorou bestätigt: „Ich sehe das nicht ganz so problematisch, weil wir uns mit der Thematik schon seit circa 20 Jahren beschäftigen. Es wurden bereits unterschiedlichste Beschichtungen getestet.“

Dr. Kristian Müller-Niehuus meint, dass, wenn Chrom VI wegfällt, zunächst viele unterschiedliche Oberflächen am Markt sein werden, von denen nach zehn Jahren ein, zwei Oberflächen übrig blieben, die kommerziell gut herstellbar seien. „Da werden dann alle anderen folgen: Schmierstoffhersteller, Dichtungshersteller, und gute Systeme entwickeln.“

Thomas Deigner SKF Economos
Thomas Deigner SKF Economos
Um flexibel auf die jeweiligen Anforderungen einzugehen, schlägt Thomas Deigner vor, dass der Kunde sehr früh im Entwicklungsstadium mit dem Dichtungshersteller zusammenarbeitet. „Wir bieten an, dass der Kunde zu uns kommt und seine Bauteile mitbringt. Dann designen wir zusammen Dichtung und Dichtstelle. Das bringt für Kunden viele Erkenntnisse und kann auch oft deutlich Kosten einsparen.“
Ein Punkt, den Dr. Müller-Niehuus genauso sieht: „Aus meiner Sicht hakt es häufig genau daran, dass der Kunde zu spät kommt und für eine vorhandene Einbausituation spontan das reale Teil benötigt. Dann kann es passieren, dass wir wirklich extrem hochwertige Werkstoffe, PEEK zum Beispiel oder PKM, FFKM wählen müssen, um die Situation, die er uns dort anbietet, auch dicht zu bekommen.“

Was der Konstrukteur tun kann
„Die konstruktive Auslegung der Dichtstelle ist oft nicht so, wie sie sein sollte“, bestätigt auch Prof. Werner Haas. „Bei der Hydraulikdichtung kommt es ja nicht nur auf den Dichtring an, sondern auch auf die Oberfläche der Hydraulikstange. Noch viel kritischer ist es bei Wellendichtringen. Dort kann man je nach Oberfläche der Welle mit ein und demselben Dichtring sehr gute, dauerhafte Dichtstellen hinbekommen, oder aber solche, die nach ganz kurzer Zeit ausfallen. Das hat mit dem Dichtring an sich so gut wie gar nichts zu tun. Erst beides zusammen ist das Dichtsystem.“ Bei Wellendichtungen sei ein typischer Fehler, dass Konstrukteure häufig versuchten, das Öl daran zu hindern, an die Dichtstelle zu kommen.

„Das führt natürlich dazu, dass die Dichtstelle nicht ausreichend geschmiert ist und zu warm wird. Viel schlauer wäre es, den Ölfluss geschickt so zu steuern, dass er zwar ohne großen Druck, aber eben doch ständig an der Dichtstelle vorbeifließt und die Wärme ableitet.“ Ein weiteres typisches Problem sei die Montage. „Es gibt Konstruktionen, die eine beschädigungsfreie Montage gar nicht zulassen“, erzählt der Professor aus Erfahrung. Dr. Müller-Niehus ergänzt, dass oft das Drumherum nicht passe, also dass die Steifigkeit des Zylinders zu gering sei, die Spalte zwischen bewegender Stange und feststehendem Element zu groß oder auch Oberflächenparameter nicht eingehalten würden.

Dichtungen, Industrie 4.0 und 3D-Druck
In der Diskussion durfte natürlich auch das Thema Digitalisierung und intelligente Systeme nicht fehlen. „Sie kennen meine Meinung dazu, ich habe es ja schon oft genug kundgetan“, betont Prof. Haas seinen Standpunkt. „Wenn man die Dichtung bei ihrer Funktion, dem Abdichten, belässt, dann wird sie meiner Ansicht nach wohl so blöd bleiben, wie sie seither auch ist.“

„Es gibt tatsächlich einen Simmering mit einem Leckage-Sensor“, führt Gonzalo Barillas an. „Wir hatten auch eine Entwicklung zusammen mit einem Kunden, wo die Dichtung einen metallisch leitfähigen Kern hatte sowie eine Umschichtung, die nicht elektrisch leitfähig war. Wenn diese Umschichtung verschlissen war, gab es ein Signal. Es wurde am Ende aber nicht umgesetzt, weil das Ganze relativ teuer wird. Es ist wohl für den Zylinderhersteller einfacher, das Thema Industrie 4.0 in der Sensorik anders zu platzieren als in der Dichtung.“

Dem kann Thomas Papatheodorou nur zustimmen: „Dichtungen mit Sensorik gibt es auf dem Markt. Die Frage ist aber immer, was ist der Kunde wirklich bereit dafür zu bezahlen? Letztendlich lassen sich solche Sensorik-Themen oft anderweitig deutlich günstiger lösen.“ Bei der Frage, ob additive Fertigungsverfahren in der Dichtungstechnik eine Rolle spielen werden, waren sich alle Experten einig, dass mittels 3D-Druck ohne Nachbearbeitung noch nicht die Oberflächenqualitäten hergestellt werden können, die in der Dichtungstechnik notwendig sind. Zwar hätten alle Hersteller bereits mit entsprechenden Verfahren experimentiert, aber was bislang fehle, sei die bei einer Dichtung so wichtige scharfe Kante.

Autor:
Chefredakteur Wolfgang Kräußllch beobachtet die Branchen und Märkte weltweit, um Chancen für den deutschen Maschinen- und Anlagenbau zu finden. Fluid 06/2017

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